Guérande, die alte Hauptstadt der Bretagne, zwischen den Sumpfwiesen des Grande Brière und den Salzmarschen von La Croisic gelegen, ist ein Relikt des Mittelalters, das auf magische Weise in die Jetztzeit katapultiert wurde.
Rückblende
Es ist schon spät am Abend und die Sonne ist längst hinter den hohen Stadtmauern untergegangen. Man schreibt den 12. April 1365 und der junge Herzog der Bretagne, Jean IV hat Freund und Feind eingeladen, die heutige Unterzeichnung des Friedensvertrages im bretonischen Erbfolgekrieg zu feiern.
Schon seit Tagen lagert sein kleines bretonisches Heer vor den Mauern der Stadt auf den Wiesen des Walls und die Zelte der englischen Ritter säumen den Wassergraben. Das Tor nach Nantes, die Porte Saint-Michel ist vom Rauch der Holzfeuer und dem brutzelnden Fett der sich am Spieß drehenden Ferkel fast eingehüllt. Die Landsknechte bechern Cidre vom Fass und schneiden dicke Stücke Fleisch vom Spieß.
Das Ende von mehr als zwanzig Jahren Belagerungen, Scharmützel und Feldschlachten will gebührend gefeiert werden. Erzogen wurde Jean IV als künftiger Earl of Richmond am englischen Hof, wohin ihn Johanna von Flandern, seine besorgte Mutter, nach dem Tod seines Vaters Jean de Montfort vor den Nachstellungen des französischen Königs in Sicherheit gebracht hatte. Sie dagegen blieb in der Bretagne, um die Ansprüche ihres Sohnes auf das Herzogtum gegen seinen Schwager Charles de Blois zu verteidigen, den der König favorisierte, weil er Jean wegen der engen Beziehungen zu England misstraute.
Vor fast einem Jahr war nun Jean IV mit 3.000 englischen Soldaten in der Bretagne gelandet und hatte Auray belagert. Bei der Entscheidungsschlacht vor den Toren der Stadt wurde das französische Heer vernichtend geschlagen und Charles de Blois von einem englischen Soldaten getötet. Der Weg zu Friedensverhandlungen war frei.
Zeitensprung
Wir stehen voll im Rauch der offenen Feuer, über denen knusprige Schweine und dicke Truthähne braten. Das Lagerleben ist in vollem Gange und der Markt bietet dem mittelalterlichen Publikum von Spangen über Kleider und sonstigem Tand alles was ein Ritter, Burgfräulein oder Junker so braucht.
Es wird gehandelt und palavert wie in alten Zeiten. Fahnen überall, Menschen strömen in die Gassen, aus jeder Ecke klingt Musik. Das große Tor am Port Saint-Michel hat heute ein noch mächtigeres Aussehen. Selbst die modernen Flagstores haben ihre Schaufenster und Auslagen dem Mittelalter angepasst. Wir tauchen ein in die Welt von vorgestern.
Zuerst besuchen wir die Kirche Saint Aubin, in der wir vor dreißig Jahren von einem Brausen und Jubilieren empfangen wurden, als ob himmlische Chöre vom Meer und Sturm, von Wolken und Wind erzählten. Louis Yhuel, der blinde Organist, probte damals für eines seiner berühmten Konzerte. Noch heute ergreift mich eine seltsame Wehmut, wenn ich daran denke.
Am Place Saint-Aubin, dem großen Platz vor der Kirche, treiben zwei lustige Gesellen ihre Späße, die Leute biegen sich vor Lachen, aber wir verstehen natürlichen nichts von den französischen Bonmots. Bald kommt die erste Musikgruppe mit Schalmeien, Dudelsack und Trommel.
Wir ergattern im Café zwei Stühle in Hörweite, das genügt auch, denn so recht klingen keine Melodien an, eher Wiederholungen des einleitenden Getudels. Der Cafe ist lecker und so ziehen wir mit neu getankter Energie weiter durch die lebendigen Gassen. Überall sind Marktstände aufgebaut, die Lagerfeuer setzen alles in Nebel. So, nur nicht so sauber, war wohl die Stimmung damals, vor langer, langer Zeit.
Überall flanieren Burgfräuleins, Grandes Madames und edle Bürger, dazwischen mal ein Henker oder Ritter. Selbst die Kleinsten sind mit Blumenkränzen im Haar geschmückt und laufen in langen Roben durch die Gassen. Ganz Guérande scheint auf diesen Tag gewartet zu haben, um einmal im Jahr die Kostüme vom Speicher zu holen und in die alte Zeit einzutauchen.
Außerhalb der Stadtmauer spielt und tanzt die Gruppe WARAOK – die Zuschauer lachen, klatschen und wiegen im Takt vorsichtig die Hüften. Schon ganz schön fränkisch diese bretonischen “Gefühlsausbrüche”! Jetzt wagt sich auch ganz zögerlich die Sonne hinter Wolken hervor – das tut gut!
Auf Strohballen sitzend, gönnen wir uns einen Becher Cidre und schlendern weiter zum Place Notre Dame la Blanche – in der gleichnamigen Kirche haben wir ein wenig Ruhe zum Nachdenken. Die Stille mitten im Trubel macht frei und froh. Langsam stellt sich Hunger ein, doch die Bierzelt-Atmosphäre macht uns nicht so recht an und es ist auch wieder kühl geworden. Ein kuschlig warmes, mittelalterliches Lokal mit Feuer im offenen Kamin? Da bietet sich das VIEUX LOGIS gleich gegenüber dem Hauptportal der Kirche doch an, also bestellen wir für später einen Tisch!
Auf dem Kirchplatz werden inzwischen Harfe und Gitarre aufgebaut für DANA, den Höhepunkt des Abends. Ein wenig erstaunt bin ich dann doch über die alten schottischen Lieder. Hell und klar intoniert DANA alte Weisen und die alte Kirche, das mittelalterliche Publikum und die fröhliche Menschen um uns herum ergeben eine wunderbare Stimmung.
Jetzt stärken wir uns so richtig beim Menü de Médiéval mit einem Fläschchen Weißwein, Terrine, Fisch und Fleisch vom offenen Feuergrill wärmen uns wieder auf, Kaffe und Tarte du Pommes – jetzt geht’s uns wieder gut!
Am späten Abend ist dann auf dem Kirchplatz noch Bal de Médiéval mit WARAOK und MARAZULA. Die Besucher und die Einwohner bilden einen großen Kreis und tanzen zu den Klängen von Schalmeien, Dudelsack, Bombarde und mächtiger Trommel. Ein wundervolles, friedliches Fest für Alt und Jung , wie damals: “un – deux – trois – quarte” zur rechten Seite schreitend, “cinq – six – sept – huit” rechtsherum drehen und wieder die Hände fassen!
Langsam spazieren wir zu unseren Fahrrädern. Vor den Mauern ist jetzt der Bär los, die Jugend trifft ein und übernimmt die Party – die Familien gehen locker und beschwingt nach Hause. Über der Stadt liegt eine Rauchwolke und aus allen Ecken klingt Lachen und Musik.
Sie klingt noch lange in unserer Erinnerung an diesen traumhaften Tag nach!