Vor uns auf der Höhe die Giechburg und am Ende des Kreuzwegs unser Ziel, die Wallfahrtskirche auf dem Gügel. Die letzte Mahd hat sich für die Bauern nicht mehr gelohnt. Der endlose Sommer hat die Wiesen ausgetrocknet und dürre Gräser stehen lassen, auf denen der Morgentau silbern glänzende Tropfen auf die Spitzen gezaubert hat. Über dem Wald erstrahlt tiefblauer Himmel, an dem keine Wolke der Sonne den Platz streitig macht.
Der Kreuzweg zum Gügel
Im harten, klaren Herbstlicht werfen die hohen Tannen lange, dunkle Schatten auf den Beginn des Kreuzwegs, dem wir mit ruhigen Schritten bergauf folgen. Die ersten Stationen mit ihren mächtigen Sandsteinsäulen liegen im Dunkeln. Fast wie unsere vergessene Kindheit, an die wir uns nur noch in wenigen Bildern und Szenen erinnern. Der Rest liegt versunken im Dunkel unseres Unterbewusstseins.
Je weiter wir bergauf steigen, desto lichter wird der Wald zu unserer Rechten und weicht schließlich einer Hochebene, über der die Sonne das bunte Laub der Bäume in allen Farben des Indian Summer erstrahlen lässt. Selbst den bisher düsteren Sandstein der Kreuzwegstationen taucht sie nun in warmes Ocker und die Geschichten des neuen Testaments treten plastisch hervor – so wie wir uns deutlich und lebendig an die späte Jugend und die ersten Liebschaften erinnern.
Besinnlich stehen wir davor und begreifen die Parallelität zu den Stationen unseres Lebens, zum immer wiederkehrenden Ablauf im sich fortwährend drehenden Rad des Lebens. Dem Werden und Vergehen im Lauf der Jahreszeiten, in Geburt – Wachsen – Gedeihen – Blühen – Altern und Sterben.
Dem Herbstlicht entgegen
Aber der Herbst hat besonders schöne Tage und die wollen wir tatkräftig nutzen! Wir verlassen den Kreuzweg mit seinen düsteren Gedanken und durchschreiten das dunkle Tal, um am Sonnenhang gegenüber wieder ins Licht zu steigen. Goldgrüne und dunkelrote Äpfel leuchten wie Weihnachtskugeln aus dem sich bereits gelb färbenden Laub der Apfelbäume.
Hoch oben am Alprand, den die Muscheln, Korallen und Schwämme eines urzeitlichen Meeres geschaffen haben, breitet sich die weite Landschaft in ihren herbstlichen Farben vor uns aus. Gegenüber die leeren Fenster der Giechburg und durch das bunte Laub im scharfen Gegenlicht die Kapelle auf dem Gügel – unser Ziel und die Endstation des Kreuzwegs, aus dessen scheinbar unentrinnbaren Verlauf wir vorhin ausgebrochen sind.
Für mich ist das heute der Fingerzeig unseres Schutzengels – dem scheinbar unentrinnbaren Verlauf der Dinge ein Schnippchen schlagen. Auch wenn ein dunkles Tal uns daran zu hindern versucht, wissen wir, im Herbst reifen die besten Früchte.
Erntedank in Ludwag
Eine gute Stunde später und ein paar Kilometer weiter gewandert, stehen wir staunend vor dem Erntedankbild in der Dorfkirche von Ludwag. Ein Streubild aus bunten Steinchen zeigt die Friedensikone aus der Erlöserkirche in Jerusalem – den ersten Bund des Alten Testaments zwischen Gott und Noah nach der Sintflut:
Der Regenbogen als Friedenssymbol.
Den Zusammenhang mit Erntedank begreife ich nicht, aber dass auch eine Sintflut nicht das Ende aller Tage bedeutet, haben wir schon beim Starkregen vor mehr als zehn Jahren erlebt, als unser ganzer Ort unter Wasser stand. Die rettenden Engel kamen damals in vielerlei Gestalt und halfen tatkräftig einen neuen Anfang zu schaffen.
Die Lourdes-Kapelle in der Unterkirche
Mit der Gewissheit, auch in schweren Stunden nicht allein zu sein, wandern wir vorbei an der kleinen Waldkapelle im Ludwager Stein und erreichen nach einer Stunde die Wallfahrtskirche auf dem Gügel, die anstelle einer längst abgegangenen Burg auf dem hohen Felsenriff weit über die Lande blickt.
Wir steigen vom Gasthaus die kurze Treppe zur Unterkirche empor und öffnen den schweren Flügel des Holztors zur Marienkapelle. Dort hat ein Pfarrer vor mehr als hundert Jahren eine Lourdesgrotte eingerichtet, in der Pilger aus der Umgebung ihre Sorgen und Nöte darbringen. Die Wachspuppe der Anna Schrenker erzählt noch heute von der wundersamen Heilung, die sie dem Geschick eines Bamberger Arztes und den Gebeten ihrer Mutter verdankt.
Auch ich lasse meine größte Sorge auf der Kniebank vor dem Marienbild sitzen, steige bedächtig die enge Wendeltreppe zur Empore hinauf und blicke von dort zurück. Dort unten sehe ich die schlaflosen Nächte, die kreisenden Gedanken, die scheinbare Ausweglosigkeit knien und danke, dass all dies jetzt überwunden ist – und lasse los!
Vorbei am Grab des Erlösers gehe ich den schmalen Gang im Halbdunkel und steige die zweite Wendeltreppe hinauf, in die vom strahlenden Herbstlicht erleuchtete Kirche, in der Christus der Erlöser im von goldenen Blumen und Sternen gezierten Mantel verkündet: „Siehe, ich habe die Welt überwunden“! Was sind dagegen meine Sorgen von gestern?
Vor uns liegt ein strahlender Nachmittag im Herbst. Wir bestellen in der Wirtschaft Dosenfleisch mit Zieberleskäs, Bratwurst mit Kraut und dazu dunkles Bier im Steinkrug, setzen uns auf eine Bank im Schatten uralter Bäume und sind uns gewiss: „Auch der Herbst hat schöne Tage“!
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