Eine Wanderung um die Hörnumer Odde auf Sylt ist eine Erfahrung, die uns mitten in die Geschichte des friesischen Helden Pidder Lüng führt und in den Kampf der Fischer ums tägliche Brot. Wir haben heute aber den Komfort unterwegs in einem typisch friesischen Restaurant einkehren zu können.
Eine stürmische Reise
Das Südkap von Sylt war von jeher eine trostlose, verlassene Einöde – Schwemmland zwischen den Wellenbergen der rauhen Nordsee und den Schlickmassen des Friesischen Wattenmeeres. Die Dünen vom Westwind aus feinem, weißen Muschelsand aufgetürmt und bei jedem Sturm ein Stückchen wattwärts verblasen. Der Strand ist aus schwerem, goldfarbenem Sand, den die Sturmflut aus dem eiszeitlichen Geestkern bei Westerland spült und dann südwärts nach Hörnum und nordwärts gen List verschleppt. Nur mühselig gewinnt der Strandhafer manchmal das Wettrennen gegen den Wind und kann schneller Wurzeln schlagen, als der Sturm den Sand wegbläst – aber eben nicht immer!
Wir haben das in einer Nacht Ende Oktober erlebt, als Orkan Grisha und sein Kompanion Herwart Schleswig Holstein lahmlegten. Am frühen Nachmittag waren wir rechtzeitig vor dem angekündigten Unwetter an der Bahnverladung in Niebüll angekommen, um mit dem Autozug über den Hindenburgdamm nach Sylt zu rollen – wie tausend andere Feriengäste auch. Vor uns eine endlose Kolonne im Stau, der sich nicht bewegte und im Laufe der fünf Stunden Wartezeit hinter uns ebenfalls Autos bis zum Horizont: „Signalstörung in Westerland“ meldet irgendwann Syltradio, weiß aber auch nichts Genaues.
Nach stundenlangem Warten kommen wir endlich auf Sylt an. Die Straße nach Hörnum ist nass und dunkel, der Sturm hat bedenklich an Stärke zugenommen und schubst das schwere Auto immer wieder nach Osten. Der Regen peitscht gegen die Scheibe und der feine Sand klebt unter den Wischerblättern. Wir schaffen es gerade noch, die Koffer in unser Apartment zu bringen, da schießen die schweren Eisenstühle schon scheppernd über die Dachterrasse und der Tisch klappt mit lautem Gepolter zusammen. In der Nacht heult der Orkan ums Haus, dass einem Bange werden kann und der Strom fällt für ein paar Stunden aus.
Die Geschichte Pidder Lüngs
Der sandige Süden Sylts wurde erst vor ein paar hundert Jahren von überlebenden Fischern aus dem nördlich gelegenen Rantum besiedelt, nachdem 1436 eine Sturmflut ihren Hafen und den ganzen Ort ins Meer gerissen hatte. In ihrer Not erbauten sie sich armselige Hütten zwischen den Dünen von Hörnum und legten einen neuen Hafen an der Ostseite der Odde an, der dem Wattenmeer zugewandt war. Allein vom Fischfang und dem Sammeln von Muscheln konnten sie jedoch kaum leben, weshalb die Strandräuberei ein willkommenes Zubrot war.
Seit langem lag den armen Fischern von Hörnum Gorig Likfuul, der gierige Pastor aus Westerland in den Ohren, sie sollten wie es in der Bibel steht, gefälligst den Zehnten bei ihm abliefern oder sie würden allesamt in der Hölle schmoren. Das ärgerte die Fischer so, dass sie eines Tages den Pidder Lüng mit einem ganzen Sack getrockneter Rochenschwänze zu ihm sandten, mit dem Bescheid, das wäre das Zehntel von den gefangenen Rochen für den Herrn Pastor.
Der erboste sich darüber derart, dass er auf’s Festland ruderte und sich bei Henning Pogwisch, dem Amtmann von Tondern, über das gotteslästerliche und treulose Gesindel am Südkap bitter beklagte, das auch dem dänischen König den Tribut schuldig blieb. Der Pogwisch willigte nur zu gern ein, seinen Sohn mit ein paar Schergen nach Hörnum rudern zu lassen, wenn der Pastor ihnen den Weg wiese.
Sie kamen am Abend vor der Fischerhütte an und polterten ohne um Einlass zu bitten in die Stube, um Steuer und Zehnten zu fordern. Nachdem Pidder Lüngs Vater beteuerte nichts zu besitzen, von dem er auch noch einen Teil abgeben könnte, wurde der Sohn des Landvogts aufbrausend. Mit einem raschen Griff riss er den Deckel des Kochtopfs hoch, in dem der Kohl für das Abendessen der Familie kochte und kuttelte widerlich hinein.
Da sprang sprang der junge Pidder Lüng wütend auf, packte den dreisten, ungehobelten Klotz am Nacken und tauchte den Kopf des Pogwisch in den Topf bis er zu Zappeln aufhörte: „Wer in den Kohl spuckt, muss ihn auch fressen“! Entsetzen lähmte den Pastor und die Schergen ob dieses Frevels.
Pidder Lüng jedoch riss die Tür der Kate auf und stürtzte mit den Worten „Lieber Tod als Sklav‘“ in die Dünen von Budersand.
Auf den Spuren Pidder Lüngs
In der Gegend, wo damals die Kate aus Rasensoden und Schilfmatten stand, ist heute die moderne Kirche Hörnums mit ihrem weißen Segel. Wir gehen auf Pidder Lüngs Spuren den Lamettahügel hinauf, der seinen Namen von den Offiziershäusern hat, die auch schon Geschichte sind. Unten am Hafen legen heute die Muschelfischer mit ihren Fabrikschiffen an und die Buden verkaufen Muscheln gesotten oder geräuchert auf dem Pappteller zum Essen im Stehen – wer’s mag!
Pidder vergewisserte sich, dass Vaters Boot noch im Hafen lag und wandte sich nach Norden. Er musste fliehen, aber alleine hatte er keine Chance. Also rannte er vorbei am Budersand, wo sich heute der Golfplatz und das noble Hotel befindet und den Hügel dahinter hinauf. Der Budersandberg ist der höchste Punkt und wurde seit jeher von allen gemieden, war er in Mondscheinnächten doch Tanzplatz der Hexen. Besonders die Sylter Hexen kamen dann auf ihren Besen von Norden geflogen und tanzten mit den Seeräubern, die ihren Unterschlupf am Hörnumer Hafen hatten.
Von hier kann man weit über das Wattenmeer bis hinüber nach Föhr und Amrum Ausschau halten. Pidder Lüng sah weit und breit kein Boot – der Pastor und die Schergen schienen allein gekommen zu sein. Er lief ein Stück den Sandweg durchs Graue Tal entlang und dann durchs Moor der Niweter-Kul in Richtung Rantum, um seine Fährte vor den Verfolgern, die bald kommen mussten, zu verbergen.
Dort, wo heute der Jugendzeltplatz ist, bog er nach Westen zum Stand ab und verwischte seine Spuren mit einem Ginsterbusch, sollten sie doch glauben er wäre nach Westerland geflohen.
Am Strand traf er einige seiner Freunde, die hier hausten und den Flutsaum nach Strandgut absuchten. Als er ihnen die schreckliche Geschichte von Tod des Sohns des verhassten Amtmanns erzählte, feierten sie ihn als Helden und einige entschlosssen sich, mit ihm zu fliehen. Gemeinsam wandten sie sich nach Süden, sorgfältig darauf achtend, dass die Wellen ihre Spuren wieder löschten. Am Platz des heutigen Strandlokals „Kap Horn“ warteten sie die tiefe Nacht ab.
Um die Hörnumer Odde
Für uns ist diese Standhütte auf der Wanderung ein perfekter Ort, um uns bei Kaffee und Kuchen oder – noch besser – bei Lumumba und friesischem Kaiserschmarrn für den zweiten Teil der Geschichte und die Umrundung der Hörnumer Odde zu stärken.
In der mondlosen Nacht brachen sie auf, um von den Schergen des Amtmanns nicht entdeckt zu werden, die im Schein von Fackeln alle Fischerkaten und die umliegenden Dünen nach Pidder Lüng absuchten. Die neuen Gefährten schworen sich unverbrüchliche Treue und beschlossen, künftig als Piraten ein besseres Leben zu führen.
Sie umgingen Hörnum auf dem Strand der Odde, enterten Vaters Fischerboot am Hafen und ließen sich von der Ebbe ins Wattenmeer treiben, wo sie erst im Morgengrauen das Segel setzten. Kurs auf Helgoland, von wo aus sie mit einer ganzen Flotte von Booten viele Jahre die Nordsee unsicher machten.
Bis sie eines Tages verfolgt und abgeschlagen in Hörnum ankerten, wo der Strandvogt Erk Mannis sie reichlich bewirtete, bis er sie total betrunken in seinem Haus einsperrte und sie der Obrigkeit überantwortete. Wie die Sage berichtet, sprachen die Richter nach altem friesischen Gesetz Recht und verurteilten Pidder Lüng und sechs seiner Gefährten „ nur mit Widerwillen“ wegen Seeräuberei zum Tod durch den Galgen.
Das Hörnumer Südkap und der Anker
Ehe wir zum Hafen kommen, passieren wir das Restaurant „Südkap“, das vor allem bei Surfern der nebenan liegenden Surfschule beliebt ist. Hier kann man rustikal einkehren, wer es gepflegter vorzieht, ist in „Möller‘s Anker“ besser bedient.
Am Hafenbecken angekommen, erregen laute „Willi, Willi“ Rufe unsere Aufmerksamkeit. Ein paar Urlauber mit ihren Kindern stehen an der Mole in der Hafenecke und füttern die nimmer satte Robbendame „Willi“ mit Heringen von der Fischbude hinter ihnen. Da taucht neben der gescheckten, dicken Kegelrobbe ein kleinerer Kopf aus dem Wasser – Charlie, ihr Söhnchen, das schon eifrig mit um die Gunst der Touristen bettelt.
Singend gehen wir die Treppe zum Lamettahügel hoch:
Pidder Lüng war ein wilder Pirat,
dem jeder mit Angst und Schrecken entgegentrat.
Die Nordsee zwischen den Inseln war seine Welt,
er kapert die Schiffe wie es ihm gefällt!
Die Schätze brachte er auf die Insel dann
und spielte dort den reichen Mann.
Doch lange war ihm das Glück nicht gewogen,
was er tat war schließlich verboten.
Die Strafe war hart und Pidder Lüng gibt’s schon lange nicht mehr,
doch die Geschichte erzählt noch jeder am Meer. (Petra)
Was für ein schöner Tag!