Lima, die Hauptstadt Perus besteht aus vielen einzelnen Großstädten, die im Lauf des letzten Jahrhunderts zwar räumlich zusammen gewachsen sind, aber immer noch ihre eigene Identität pflegen. So gilt Miraflores, die ehemalige Sommerfrische am Meer, heute als die grüne Gartenstadt, in die Einheimische fahren, wenn sie ausgehen oder an den Strand zum Baden fahren und in der sich auch Touristen relativ gefahrlos allein bewegen können.
Empfang im Atemporal
„Buon dias, me llamo Ricardo“ stellt sich der ältere Herr freundlich vor. Er spricht mit der ruhigen, ausgeglichenen Stimme eines Notars, der seinen Klienten auch unangenehme Neuigkeiten freundlich vermittelt. Ich antworte ihm auf Englisch und er wechselt fliesend die Sprache, um sich nach unseren Wünschen für das Frühstück zu erkundigen. „Kaffee und Tee, beides schwarz bitte“!
Wir betreten den blauen Salon, den eine breite, raumhohe Glasfront von der Veranda und dem dahinter liegenden Garten mit dem Sofa und den beigen Loungesesseln trennt. Überrascht bleiben wir mitten im Raum stehen, große, gerahmte Kunstwerke eines peruanischen Fotografen geben dem Raum mit seiner Stuckrosette und dem kleinen Bistrotischchen, der Eckcouch und dem quadratischen Glastisch mit der, von weißen Calla und orangen Fresien überbordenden Vase einen modernen Touch.
Wir hatten nicht erwartet, im Lima des 21. Jahrhunderts ein Hotel zu finden, in dem wir uns wie bei Tante Eva in ihrer Villa aus den Vorkriegsjahren zu Besuch fühlen. Aber wir werden genauso fürsorglich bekocht. Frisch gepresster Orangen- und Melonensaft, Eier als Ochsenaugen oder pochiert im Glas, Pfannkuchen mit frischem Obst vom Buffet und Ahornsirup, Rosinen und Walnüssen. Uns geht’s gut!
Stadtbummel durch Miraflores
Gestern Abend sind wir nach langer Fahrt an der Pazifikküste entlang aus dem Norden Perus in Lima angekommen und erinnern uns an das Verkehrschaos dieser Stadt, in das uns Ricardo mit den Worten eingeführt hat: „Sie sollten wissen, dass hier keine Verkehrsregeln gelten, außer ein Polizist pfeift, winkt oder gibt Ihnen sonst zu verstehen, weiterzufahren oder anzuhalten! Das kann ja heiter werden! Gott sei Dank hatten wir nicht vor, unseren SUV hier in Lima zu benutzen, wir wollten nur bis zum Hotel kommen.
Für heute werden wir erst einmal die nähere Umgebung zu Fuß erkunden, um uns mit der Stadt und seinen Einwohnern vertraut zu machen. Ricardo gibt uns noch ein paar Tipps mit auf den Weg und schärft uns ein, keinesfalls ein Taxi am Straßenrand anzuhalten, sondern im Hotel anzurufen, um abgeholt zu werden. Er ist etwas beruhigter, als ich ihm auf meinem Smartphone den elektronischen Stadtplan und die für den Stadtbummel geplante Route zeige und ihm versichere, dass uns das Ding auch wieder zurück führen wird. Außerdem haben wir die Taxi App BEAT heruntergeladen, mit der wir in den nächsten Tagen sicher und stressfrei fahren.
Archäologie mit Genuss
Unsere erste Station ist die Lehmziegelpyramide Huaca Pucllana der Limakultur aus dem 5. Jahrhundert: „Heute geschlossen“! Eine freundliche Dame sieht unsere ratlosen Gesichter und gibt uns lächelnd den Tipp „Gehen Sie doch ins Restaurant, von der Terrasse haben Sie einen tollen Blick auf die gesamte Anlage“.
Gesagt, getan! Wir ignorieren die Platzierung des Kellners und ich wünsche lächelnd, an dem kleinen Tisch vorne auf der Terrasse zu speisen. Es hat schon ein paar Jahrzehnte gedauert, bis ich gelernt habe, dass man als zahlender Gast seine Wünsche auch freundlich lächelnd durchsetzen kann.
Bei einem kühlen Glas Weißwein aus Peru, Quinoasalat und Carpaccio studieren wir die unzähligen Schichten hellbrauner Lehmziegel und erhalten eine Live-Demo antiker Bautechnik. Ein paar peruanische Arbeiter des Museums schieben ihren Schubkarren bedächtig einen Fuß vor den anderen setzend, mit stoischer Miene von links nach rechts, halbvoll mit Kieselsteinen und rollen leer genauso langsam wieder zurück von rechts nach links: „Quietsch — quietsch — quietsch“.
Wir schauen uns an und lachen beide los – so muss ein Museumsbesuch sein!
Ortsbezeichnung
Der Inka-Markt, den uns Ricardo noch empfohlen hat, ist ein typischer Touristenrummel und für geführte Busreisen sicher Pflichtprogramm. Zur Mittagszeit sind die jedoch alle beim Essen und wir nutzen die Gelegenheit, um in Ruhe nach einer Umhängetasche zu suchen, in der meine Kamera weniger auffällt, als in der Profi-Fototasche. Nach einigem Suchen werden wir auch fündig.
Die angebotenen Sachen gleichen sich von Stand zu Stand immer wieder und werden in Bolivien billig hergestellt, um auf den Touristenmärkten als peruanische Handarbeit verkauft zu werden. Das meiste ist Krusch und Krempel, auch die Pullover aus „Alpakawolle“, die sind aus Hasenfell. Noch glauben wir, dass wir die nicht brauchen werden, hat der Winter in Lima doch 20 Grad und ist eher feucht vom Hochnebel. Im Hotel hatten wir die Klimaanlage auf heizen gestellt, um das Feuchtklamme aus der Bettwäsche zu trocknen.
Unser Ziel ist das Herz von Miraflores – der Kennedy Park mit dem Rathaus des Stadtteils und der Kirche – das wir nach einer halben Stunde etwas enttäuscht erreichen. Die exotischen Bäume blühen überall in der Stadt, aber nicht hier im Park. Beschauliche Ruhe sucht man hier ebenfalls vergebens, seit die Stadt eine kostenlose WiFi-Zone eingerichtet hat, um die Jugend mit ihren Smartphones aus den Kneipen zu locken. In Scharen bevölkern sie die Bänke und Wege, um mit ihren Freunden zu skypen und zu chatten. Ein endloses Geschnatter und Gegacker mit hochgehaltenem Handy, um den Gesprächspartnern zu zeigen, wo man sich befindet und wer alles cooles dabei ist – nicht meine Welt!
Die Kirche mit ihren Barocktürmchen ist in hässlichem Betongrau gestrichen, das Rathaus ein alter Bau, aus dessen offenem Portal der Muff von Bohnerwachs, Aktenordnern und endlosen Warteschlangen der Antragsteller nach außen drängt – wir gehen gegenüber einen Kaffee trinken!
Auf dem Rückweg besuchen wir das Wohnhaus des berühmten peruanischen Schriftstellers Ricardo Palma, der mit den „Tradiciones peruanas“ im 19. Jahrhundert ein Genre der Erzählung begann, das zwischen Geschichten erzählen, verdichten um eine allgemein gültige Wahrheit oder Erfahrung heraus zu destillieren oder eine neu zu erfinden, weil sie genauso gut hätte stattfinden können – ein früher Traumwanderer eben.
Wir werden schon erwartet!
Leicht erschöpft finden wir den Weg zurück zum Atemporal, wo uns ein gut gelaunter Ricardo empfängt und sich nach unseren Abenteuern in Miraflores erkundigt, indem er uns auf ein Glas Wein einlädt zum erzählen.
Wir erzählen unsere kleinen Abenteuer und Ricardo seine Lebensgeschichte als Buchhalter, als Dirktor der peruanischen Luftfahrtgesellschaft in Florida und Texas, als Besitzer und Chef einer Polsterfabrik, von seiner Emigration unter Fujimoro als Wirtschaftsflüchtling nach Florida, wo er als Hoteldirektor tätig war. Schließlich von seiner Rückkehr, dem Erwerb und der Renovierung des Atemporal im letzten Jahr, das er jetzt zusammen mit seinen beiden Töchtern führt. Die bewegte Geschichte eines Peruaners, der zurück gefunden hat.
Wir beschließen den kühlen Winterabend unter der Wärmelampe auf der Terrasse bei einer heißen Suppe und Farfalle mit Bolognese, den argentinischen Rotwein nicht zu vergessen.
Ein gelungener erster Tag in Lima, der Hauptstadt Perus!